Ventana nº 16
|
Jessy - Sweetvalentines Indigo Girl
Kapitel 16
Leas Blick streifte ungewollt auf das Foto auf der Kommode am Fenster, das sie und Jochen, Arm in Arm, mit zwei befreiten Hunden zeigte. „ Lea, erinnerst du dich daran, dass wir uns einmal versprochen haben, immer auf unseren Weg zu bleiben, egal, was kommt?“ Lea schloss die Augen und nickte wortlos. „ Es geht um ein leben Lea. Um ein Geschöpf Gottes, das du retten kannst.“ Lea atmete tief durch. „ Jochen, wieso meinst du, dass ich eine größere Chance hätte an den Hund heran zu kommen? Mehr als ihr getan habt, kann ich auch nicht tun. Was glaubst du denn?“ „ Lea, niemand von uns kennt sich mit den Verhaltensweisen ängstlicher Hunde besser aus als du. Du hast mit ihnen gearbeitet, jahrelang. Denk mal an Mütze, der damals wochenlang durch die Felder gestreift ist und sich von niemand einfangen ließ. Zu dir ist er gekommen. Bitte, Lea, du musst es wenigstens versuchen.“ Lea rieb sich mit der linken Hand langsam die Schläfen und seufzte. „ Ach Jochen, Mütze war ein Zwergschnauzer. Und es war Sommer. Ich habe damals nächtelang auf dieser Wiese geschlafen, bis ich ihn hatte, und das ist mir auch nur gelungen, weil er nur eine halbe Portion war. Das kannst du doch gar nicht vergleichen.“
Gib ihm eine Chance, Lea, bevor Hannes heute Nachmittag Jens darum bittet, mit dem Betäubungsgewehr auszurücken.“ „ Hat er das etwa vor?“, fragte Lea bestürzt. „ Gesagt hat er es nicht, und er hat es an sich auch abgelehnt. Aber da war der Hund auch nicht verletzt. Hannes ist Tierarzt. Irgendwas muss er tun. Und was bleibt ihm noch übrig?“ „ Halt ihn davon zurück, Jochen. Das Risiko wäre…“ „ Heißt das, du kommst?“, fragte Jochen so hastig und mit so viel Hoffnung in der Stimme, dass Lea ihren Satz nicht zu Ende sprach. „ Weißt du eigentlich, Jochen, in was für eine Situation du mich gerade bringst?“, fragte sie. „ Ich war sozusagen schon auf dem Weg zu meiner Familie. In ein paar Tagen ist Weihnachten.“ „ Lea, manchmal passen die Dinge einfach zusammen. Besser kann es gar nicht laufen. Du hast Urlaub und deine Abreise ohnehin vorbereitet, und deine Taschen sind bereits gepackt. Du brauchst sich also nur noch ins Auto zu setzen und herkommen.“
Lea schüttelte verzweifelt den Kopf. Unzählige, unsortierte Überlegungen kreisten sekundenschnell durch ihre Gedanken. Ihr Blick streife wieder die Fotos auf der Kommode. Sie sah Juli, die kleine Beaglehündin, die sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion quer durch die Republik zum Rosenhof gefahren hatte. Daneben das Foto von Rosalie. Sie stand vor dem Schuppen, auf der Suche nach Maya, der Ziege, die immerzu verschwand. Und ganz vorn Hannes mit Flora, seiner geliebten, wunderschönen Stute. Lea spürte, wie sehr sie den Rosenhof vermisste. Aber ein Wiedersehen würde die noch immer nicht vernarbten Wunden nur wieder aufreißen. Alles würde von vorne anfangen. Nein! Sie würde nicht zurückfahren. Auf keinen Fall. Hannes würde es nicht noch einmal durchstehen und sie auch nicht. Sie würde zu ihrer Familie fahren und versuchen, wederüber das Gespräch mit Jochen noch über den Hund, den sie schließlich überhaupt nicht kannte, nachzudenken. – Aber würde sie das tatsächlich können? Würde sie ein Leben vergessen können, das ihre Hilfe gebraucht hätte? – Ach was, sie könnte doch ohnehin nichts tun. Der Gedanke, dass sie an den Hund herankäme, war doch irrwitzig. Sie schüttelte wieder entschlossen den Kopf. Und ihre Augen klebten plötzlich unbeabsichtigt auf einer der Zeitschriften, die sie bereits auf den Stapel zum entsorgen gelegt hatte: „ Wer zu handeln versäumt, ist noch keineswegs frei von Schuld“. Siegfried Lenz mit seinen Sprüchen, hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt. Natürlich ist man nicht frei von Schuld nur weil man wegsieht, rechtfertigte sie sich. Aber es gibt im Leben eben immer wieder Situationen, in denen man das Eine gegen das Andere abwägen muss. Sie starrte auf die Zeilen und konnte sich nicht gegen die frage wehren, die sich ihr unweigerlich aufdrängte. Gibt es denn wirklich etwas, was wichtiger wäre, als ein Leben, das Hilfe brauchte? Selbst wenn die Chance, diesem Leben tatsächlich helfen zu können, nur winzig klein ist. Die Antwort war eindeutig. Nein, es gibt nichts, was wichtiger wäre. Nichts, was bedeutsamer sein könnte. Lea nickte für sich. Sie musste es versuchen. Sie musste sich treu bleiben. Sie durfte den Weg nicht verlassen und die Aufgabe, die auf sie wartete, nicht ablehnen. „ Lea? Was ist? Wirst du kommen?“, fragte Jochen noch einmal voller Hoffnung. „ Entschuldige, Jochen, aber ich brauche einen Augenblick zum Nachdenken. Ja, - ja, ich werde kommen. Kannst du mich im Dorf abholen? Ich werde dich anrufen, wenn ich beim alten Krug angekommen bin. Es wird so ungefähr 13 Uhr werden. Ich werde mir da ein Zimmer nehmen und mein Auto auf dem Parkplatz hinter dem Haus abstellen.“ „ Du willst nicht zu uns auf den Rosenhof kommen?“, rief Rosalie enttäuscht in den Hörer. Aber Jochen wollte Lea keine Gelegenheit lassen, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. „ Geht in Ordnung!“, sagte er umgehend. „ Ich warte ab 13 Uhr auf deinen Anruf.“
*******
Fortsetzung folgt!
|
|