Fenêtre 10
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Lotte - Sweetvalentines Twinkling Star
Kapitel 10
Hannes sah nachdenklich über die Balustrade des Hochsitzes. „ Ja, möglich wäre es schon!“, sagte er zögerlich. „ Aber wenn er irgendwann einmal auf den Menschen sozialisiert worden war, wovon ich mal ausgehe, dann müsste er wirklich schreckliches erlebt haben, um sich tatsächlich ganz von den Menschen abzuwenden.“ Jochen schob den Kragen hoch und kroch noch tiefer in seine Jacke. „ Mal angenommen, es wäre so“, überlegte er, „ und mal angenommen, er hat irgendwo sein festes Revier, wovon ernährt er sich dann aber? Er sah nicht mager aus.“ „ Nein, ganz im Gegenteil“ antwortete Hannes und ließ nebenbei seinen Blick wieder über die Felder wandern. „ Er sah recht gut aus. Ich könnte mir vorstellen, dass er entweder ein guter Jäger ist oder sich seine Nahrung auf irgendeinem Hof sucht. Das würde zwar bedeuten, dass er täglich eine weite Strecke von hier aus zurücklegen müsste, aber naturgemäß wäre das ja…“ Schlagartig brach er seinen Satz ab und stand hektisch auf. „ Dahinten ist er, Jochen!“ Aufgeregt deutete Hannes in die Ferne. Das Erstaunen auf seinem Gesicht zeigte Jochen, dass auch er nicht wirklich an ein Wiedersehen geglaubt hatte.
„Schnell, wir müssen hier runter. Er läuft direkt in unsere Richtung.“ Hannes kletterte so schnell er konnte die eisglatte Stufenleiter hinunter. „ Kannst du ihn sehen?“, rief er Jochen zu, der noch immer oben stand und das Fernglas auf den herankommenden Hund richtete. „ Ja, da läuft er! Dahinten, Hannes, am Waldrand, er läuft direkt auf dich zu! – Pass auf, dass er sich nicht erschreckt!“ Der Hund lief geradewegs auf die alte Eiche zu, hinter deren Stamm Hannes regungslos verharrte. Als er Hannes erblickte, blieb er schlagartig stehen und bewegte sich keinen Zentimeter mehr weiter. Er begutachtete ihn aus der Ferne. Er hielt seine Nase in den kalten Wind und nahm seine Witterung auf. „ Wir kennen uns schon!“ rief Hannes ihm mit sanfter Stimme entgegen. „ Es gibt also keinen Grund zur Aufregung.“ Hannes bewegte sich langsam auf ihn zu. Die Augen des Hundes verfolgten ihn Schritt für Schritt. Hannes spürte wie sie ihn musterten und kontrollierten. Er griff nach dem Futterbeutel, den Jochen neben dem Stamm abgelegt hatte und holte ein Stück Fleisch heraus. „ Na mein Freund? Wie ist es? Hast du Hunger?“, fragte er über die Entfernung und hielt ihm das Fleisch entgegen. Der Hund legte seine Ohren an, zog den Schwanz tief unter den gekrümmten Rücken und ging ein paar Schritte rückwärts. Hin und wieder krauste er die Nase, um Hannes unmissverständlich klarzumachen, dass er sich notfalls zu wehren wüsste. Hannes wunderte sich über das Verhalten des Hundes. Ein so drohendes Angstverhalten hatte er letzte Nacht nicht gezeigt. „ Ist ja gut, mein Wolf. Warum bist du denn nur so misstrauisch? – Was haben dir die Menschen angetan?“ Hannes warf ihm das Fleisch hin. Aber der Hund würdigte es keines Blickes. Er leckte sich mit der Zunge immer wieder über die Nase, aber seine Augen fixierten ausschließlich Hannes. Er registrierte jede seiner Bewegungen. „ Du hast Hunger, stimmt’s ?“ Aber du hast auch Angst, in meiner Gegenwart zu fressen. Weil du dann unkonzentriert wärst, -Ja da hast du Recht.“ Hannes sah den Hund mitleidig an. Er nahm das restliche Fleisch aus dem beutel und legte es neben dem Stamm der Eiche. „ Ich werde gehen und du lässt es dir schmecken. Was meinst du? Ist das ein Angebot?“ Hannes drehte sich langsam um und ging zum Hochsitz.“ Denkst du wirklich, dass du das richtige machst?“ rief Jochen, der noch auf dem zugigen Hochsitz stand und bereits vor Kälte bibberte. „ Warum bleibst du nicht in seiner Nähe?“ Hannes stieg die Leiter empor und sah Jochen entschlossen an. „ Weil er Hunger und Angst hat! Schau ihn dir doch mal an, Jochen. Er misstraut allem und jedem. Es gibt niemanden, der für ihn sorgt und niemanden der ihn liebt. Er hat auf dieser Welt keinen einzigen kleinen Platz, der ihm gehört. Er hat nichts, gar nichts. Noch nicht einmal ein warmes Lager, auf dem er sich einmal aufwärmen könnte.“ Jochen nickte und sah Hannes irritiert an. Wieso ließ er sich zu so einem Gefühlsausbruch hinreißen? Ausgerechnet jetzt, in einer so entscheidenden Situation. Wo war sein Sachverstand geblieben? Wieso traf er eine so spontane Entscheidung? Hannes beobachtete den Hund, wie er langsam und immer wieder nervös in alle Richtungen umschauend an das Fleisch heranschlich, um es sich zu holen. „ Er muss langsam Vertrauen fassen“, sagte er. „ Er wird gleich wieder seines Weges ziehen und wir werden ihn gehen lassen müssen. Diesem Hund ein Halsband anzulegen, um ihn an einer Leine hier wegzuführen, ist undenkbar.“ Jochen sah Hannes fragend an und schüttelte insgeheim den Kopf. „Und was heißt das jetzt im Klartext? Willst du ihn etwa allein hier draußen in der Kälte lassen?“ Hannes nickte. „ Vorerst werden wir keine andere Wahl haben. Ich werde Jens fragen müssen, ob er mir erlaubt, einen wettergeschützten Holzunterstand hier aufzustellen. Wenn ja, werde ich täglich Stroh und Futter herbringen. So erreichen wir zumindest erst einmal, dass er hier bleibt und nicht in ein Nachbarrevier umzieht.“
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Fortsetzung folgt!
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